2024: LWWS XII – „BioDiversität – (R)Evolution Now!?“
Wann: Mi. 08.05.-So.12.05. 2024
Wo: Fritz-Emmel Haus, Kronberg im Taunus
Wer: 44 Stipendiat:innen und Alumnae/i aller Fachbereiche
Organisationsteam: Hannah Büttner (Jena), Marcel Horning (Heidelberg/Freiburg), Katharina Lotter (Ulm), Leon Rauschning (München/Barcelona)
Biodiversität kann aus vielen verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden. Aufgefasst als Anzahl der Spezies in einem Gebiet ist sie eine wichtige ökologische Kennzahl, die auch als ein Maß für die Resilienz eines Ökosystems dienen kann. Ebenso hängen zentrale “Ecosystem Services” wie Frischwasserbereitstellung, Krankheitsresilienz und Dürretoleranz von Ackerflächen sowie Kohlenstofffixierung von ihr ab und weiterführend ist auch die Zufriedenheit von Menschen ist mit der Biodiversität des sie umgebenden Ökosystems verbunden. Um die Widerstandsfähigkeit eines Ökosystems noch besser bestimmen zu können, gibt es neben dem Konzept des naiven Artenreichtums auch funktionale Ansätze zur Bestimmung der Biodiversität, in der neben der bloßen Anzahl auch die Charakteristika und Interaktionen vorkommender Arten einbezogen werden. Insbesondere gewisse »Schlüsselarten« spielen dabei für das Funktionieren eines Ökosystems eine disproportionale Rolle. Auch die genetische oder phänotypische Diversität innerhalb einer Art kann ein Aspekt von Biodiversität sein; ihr Verlust stellt eines der frühen Warnzeichen vor dem Kollaps eines Ökosystems dar.
Etwas holistischer gedacht kann Biodiversität auch für die allgemeine Formenvielfalt des Lebens auf Erden stehen; diese ist nicht nur für Evolutionsbiologen spannende Forschungsgrundlage, sondern kann auch für funktionale biomedizinische oder biochemische Forschung als natürliches Experiment oder Quelle neuartiger chemischer Strukturen dienen. Ein klassisches Beispiel dafür sind die stark wirksamen Zytostatika Vinblastin und Placlitaxel, die beide aus in der Wildnis vorkommenden Pflanzen extrahiert wurden (Abb. 1). Die Artenvielfalt der Natur wird vom Menschen aber auch als Inspirationsquelle genutzt, etwa in den Ingenieurwissenschaften – exemplifiziert im Feld der Bionik – oder in der Kunst.
Abb. 1: Strukturformeln von Vinblastin und Paclitaxel, zwei hochwirksamen Zytostatika pflanzlichen Ursprungs mit den jeweiligen pflanzlichen Produzenten. Abb. Hannah Büttner
Trotz dieser Wichtigkeit befindet sich die Biodiversität seit Jahren in einer fortschreitenden Krise. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kommt es aufgrund zunehmender menschlicher Eingriffe in natürliche Ökosysteme zu einem rapiden Artensterben und Verlust von einzigartigen Ökosystemen. Der nachhaltige Schutz und die Erhaltung der Biodiversität bringen hierbei mannigfaltige Herausforderungen, von individuellen Verhaltensänderungen über politische Regulationen für Unternehmen und Änderungen internationaler Zusammenarbeit mit sich.
Da Biodiversität – als gleichzeitige Grundlage und Resultat der Evolution – ein zentrales Thema der Lebenswissenschaften darstellt, eignet sich das Thema besonders gut für das interdisziplinäre Format des LWWS. Das Thema ermöglicht auch einen vielseitigen Austausch mit nicht-lebenswissenschaftlichen Fachbereichen, beispielsweise juristischen Aspekten des Biodiversitätsschutzes oder sozialen Auswirkungen der Zerstörung von Biodiversität. Dem Themenkomplex der Biodiversität wollten wir uns daher anhand von zwei Leitfragen ökologisch-evolutionär und molekularbiologisch nähern, aber auch eine sozialwissenschaftliche Perspektive berücksichtigen:
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Was ist Diversität? Wo findet man sie, wie entsteht sie und warum geht sie verloren?
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Wie wirkt sich Biodiversität auf den Menschen aus, heute und in der Zukunft?
Nachdem wir uns am Mittwochabend in Kleingruppenarbeit dem Thema genähert und unsere persönlichen Assoziationen zur Biodiversität ausgetauscht hatten, gab am Donnerstagmorgen Dr. Sebastian Markert als langjähriger LWWS-Teilnehmer und -Mitgestalter den fulminanten Auftakt in das Seminar. In seinem “Keynote-Vortrag” bekamen wir die Entstehung von Diversität in der Biologie sowie die zugrunde liegenden Mechanismen der Evolution verschiedener Arten anhand zahlreicher Beispiele vermittelt. Damit veranschaulichte Dr. Markert die Dynamik der Evolution und die Betrachtungsweisen evolutionärer Prozesse in der Naturwissenschaften anhand verschiedener Darstellungen phylogenetischer Stammbäume. In Bezug auf die übermäßige Fokussierung funktionaler, biomedizinischer Lebenswissenschaften auf den Menschen lernten wir das Konzept des phylogenetischen Narzissmus kennen.
Im Anschluss daran beschäftigten wir uns im Rahmen der TeilnehmerInnen-Vorträge in zwei verschiedenen Vortrags-Schienen erst mit Paläodiversität – also der Rekonstruktion vergangener Biodiversität anhand von Fossilien – einem schwierigen Unterfangen, das nicht zuletzt durch unterschiedliche Fossilierungsarten und geographisch stark unterschiedliche historische Feldforschung verkompliziert wird. In anderen Vorträgen wurden einige Konzeptionen von “Keystone Species” (dt. Schlüsselarten) eingeführt oder Chancen und Risiken des "Geo-Engineerings" am Beispiel von Prochlorococcus vorgestellt und kritisch diskutiert. Ein weiterer Vortrag erläuterte, wie Datenanalyse zur Überwachung von Algenpopulationen in Küstenregionen eingesetzt werden kann.
Zum Abschluss der ersten Vortrags-Session hörten wir in einem Plenumsvortrag vom Tagfalter-Monitoring in Europa, einem Projekt, das mithilfe von Citizen Science die Biodiversität extanter Schmetterlinge systematisch erfasst. Dieses Projekt zeigte uns nicht zuletzt die Wichtigkeit individueller Partizipation zum Erhalt der heimischen Artenvielfalt.
Nachmittags reflektierten wir in einer Schiene kritisch die Rolle von Zoos und des Tourismus zur Erhaltung der Biodiversität und konnten in einer angeregten Diskussion verschiedene Standpunkte debattieren. Währenddessen wurde in der zweiten Schiene mikrobielle Diversität betrachtet. Nach einem einführenden Vortrag zu den bioinformatischen Methoden, mit denen mikrobielle Communities in ökologischen oder organismischen Settings erschlossen werden können, beschäftigten wir uns mit dem Einfluss des Darm-Mikrobioms auf männliche Fruchtbarkeit in Mäusen – der allerdings statistisch nicht signifikant war, was ebenfalls zu einigen Diskussionen einlud.
Neben diesen vielfältigen Vorträgen und Diskussionsrunden gab es am Nachmittag als zusätzliches Lernformat eine Postersession. Hierbei wurden Projekte zur Diversitätsbestimmung im arktischen Benthos präsentiert, als auch der Einfluss von Natur, Artenvielfalt und Naturschutz in Erzählstrukturen indigener Mythen vorgestellt.
Auch die Kreativität kam nicht zu kurz: so bot unser Science-Slam am Abend Raum zur humoristischen Darstellung des Immunsystems und der Biodiversität in Literatur und Kurzfilm. Des Weiteren beschäftigten wir uns am Freitag mit den juristischen Aspekten der Biodiversität und hinterfragen, inwieweit der aktuelle Rechtsrahmen des Umwelt- und Artenschutzes ausreichend ist, um vom Aussterben bedrohte Biodiversität zu schützen. Auch neuartige juristische Ansätze wie Persönlichkeitsrechte der Natur (wie etwa das Konzept der Pacha Mama) konnten angesprochen werden. Kontrovers diskutiert wurde auch ein Vortrag zum Umgang mit Biodiversität als Ressource bzw. Biopiraterie, insbesondere am Beispiel der Medikamentenentwicklung europäischer oder nordamerikanischer Firmen basierend auf Naturstoffen aus dem globalen Süden; in der Abschlussdiskussion zu verantwortungsvollen unternehmerischen Handeln wurde dies auch wieder aufgegriffen. Die parallel verlaufende Schiene diskutierte im Gegensatz dazu den Einfluss von Landwirtschaft auf die Biodiversität von Agrar- und Waldflächen. Die Vorträge behandelten, inwieweit auch Gentechnik in der Zukunft eine stärkere Rolle in der Landwirtschaft spielen könnte und wie sich Biodiversität auch in ehemals landwirtschaftlich genutzten Flächen wieder entwickeln kann. Ebenso wurden auch die Einflüsse von und in Wäldern auf Biodiversitätsentwicklungen diskutiert und ein Überblick über die Highlights der biologische Vielfalt Costa Ricas anhand der Darstellungen auf der nationalen Währung präsentiert.
Mit dem zweiten Dozierendenvortrag von Prof. Lena Wilfert, die die Arbeitsgruppe Functional Biodiversity an der Universität Ulm leitet, konnte anhand aktueller Beispiele in die zweite Leitfrage eingeführt werden. In Ihrem Vortrag “Parasiten und Pathogene in der Biodiversitätskrise” ging sie näher auf die Rolle bestäubender Insekten für unsere Ackernutzflächen und Wälder ein und hob die Wichtigkeit gesunder Insektenpopulationen hervor. Eindrucksvoll schilderte sie die verschiedenen Auswirkungen von Parasiten, wie etwa der Varroa-Milbe, auf die Bestände von Bienen und Hummeln und erklärte die Rolle genetischer Risikofaktoren für die Resilienz unserer heimischen Insektenbestände.
Eine praktische Perspektive auf die verschiedenen Aspekte der Biodiversität boten auch die darauf folgenden verschiedenen Exkursionen ins Senckenberg-Museum, den Wissenschaftsgarten und den Opel Zoo.
Bei verschiedenen Führungen durch das Museum beschäftigten wir uns mit den wichtigen Funktionen von Insekten für Ökosysteme und den Herausforderungen, die sich für Insekten in Großstädten ergeben, sowie dem Ökosystem der Meere und Korallenriffe und wie diese besser geschützt werden können. Des Weiteren beschäftigten wir uns mit der Rolle von Zoos im Artenschutz sowie Zuchtprogrammen und erlebten die Tiere Madagaskars hautnah. Bei einer spannenden Führung durch den Wissenschaftsgarten gewährte Prof. Meike Piepenbring einen Einblick in die aktuellen wissenschaftlichen Experimente und ließ uns die heimische und globale Diversität fühlen und sogar auch schmecken.
Abb. 2: Corvus spp. Im Vordergrund Rauchkrähe (C. corvix), im Hintergrund Aaskrähe (C. corone) – in früherer Systematik beide als C. corone zusammengefasst. Die Spezies hybridisieren, zeigen allerdings starkes assortatives Mating.
Abbildung gemeinfrei aus »Naturgeschichte der Vögel Mitteleuropas. Band 4« von Johann Andreas Naumann (1904)
Den Samstag eröffnete Prof. Jochen Wolf, mit einem Vortrag, in dem er seine Forschung über Mikroevolution in Corviden darstellte. Ein wichtiger Punkt bildete zudem die gesellschaftliche Verantwortung der Lebenswissenschaften, sich für die Bewahrung bestehender Biodiversität einzusetzen. In seiner Forschung zu Rauch- und Nebelkrähen (s. auch Abb. 2) betrachtete Prof. Wolf die Dynamik der Hybridzone, in der sich die beiden Arten treffen und hybridisieren. Dabei beobachtet man eine starke assortative Paarung der Vögel, basierend auf einem Polymorphismus in der Deckfarbe, der sich während der Eiszeit in Populationen in Refugien in Spanien und dem südlichen Balkan entwickelt hat. Durch Modellierung konnte seine Arbeitsgruppe basierend auf den vermuteten Refugien die aktuelle Verteilung rekonstruieren sowie den zukünftigen Verlauf der Hybridzone vorhersagen. Das Modell erklärt auch den regen Genfluss, der ebenso für bestimmte Gene, die nicht mit der Deckfarbe assoziiert sind, zwischen beiden Populationen beobachtet wird.
Im konservationsbiologischen Teil seines Vortrags ging Prof. Wolf auf die Rahmenbedingungen der Biodiversitätskrise allgemein ein, sowie bestehende Ansätze, die verbleibende Biodiversität mit der Hilfe von jungen Wissenschaftlern zu schützen. Dies war auch der Fokus der an den Vortrag anschließenden Diskussion. Im Rahmen des Vortrags und der Diskussion kamen viele der in Teilnehmendenbeiträge angerissenen Konzepte und Ansätze noch einmal auf, beispielsweise die Persönlichkeitsrechte der Natur sowie das Konzept der “Keystone Spezies”.
Für die interaktive Auseinandersetzung mit dem Thema der Biodiversität sorgten auch verschiedene praxisbezogene Workshops zu den Themen “Nachhaltige Ressourcennutzung im Krankenhaus”, “Mindful eating”, “Human-Nonhuman relations of the anthropocene” und “Die Vielfalt essbarer Wildpflanzen”. Neben Diskussionen zur Optimierung von Krankenhäusern wurde der Einfluss unserer heutigen Ernährungsweise auf unser Mikrobiom und dessen Auswirkungen auf unsere Gesundheit betrachtet. In anderen Workshops machen wir uns gemeinsam in Kronberg auf Pflanzensuche und lernten wie man verantwortungsbewusst Wildpflanzen sammeln kann, essbare Pflanzen eindeutig erkennen kann und heimische Wildpflanzen wie beispielsweise Giersch, Brennessel, Knoblauchsrauke oder Schafgarbe kulinarisch verwenden kann. Um die Perspektive der Lebenswissenschaft zu erweitern, betrachteten wir in einem anderen Workshop die Darstellungsweise der Natur in kontemporärer englischer Literatur und beschäftigten uns mit dem Einfluss von Sprache auf unsere Wahrnehmung.
Erweiternd thematisierte unser letzter Dozierendenvortrag von Prof. Dr. Nadia Kamals die Auswirkungen der Biodiversität auf die Agrarnutzung der Zukunft. Beispielbezogen führte sie uns in die vergleichende Genomforschung von Nutzpflanzen ein und erklärte wie die Analyse komplexer Genomdaten von Pflanzen zu einer gezielten Anpassung von Nutzpflanzen für eine verbesserte Klima- und Krankheitsresistenz genutzt werden kann. In einer spannenden Diskussionsrunde betrachteten wir die Chancen und Herausforderungen der Methoden und internationalen wissenschaftlichen Zusammenarbeit, sowie die sozialen Implikationen des Einsatzes von genetisch modifizierten Pflanzen. Um die ökonomische Perspektive der Biodiversität zu betrachten gab es einerseits kritische Betrachtungen zur Diversität in wirtschaftlichen Strukturen, sowie eine kontroverse Diskussionsrunde die sich mit den Möglichkeiten des verantwortungsvollen unternehmerischen Handelns in der Biodiversitätskrise beschäftigte.
Für eine molekulare Perspektive der Biodiversität sorgten Beiträge zur Funktionsweise des für die Photosynthese essentiellen Enzyms Rubisco und zur Interaktion zwischen natürlichen Polymeren und künstlichen Antikörpern. Alternativ wurden in der zweiten Schiene zeitgleich verschiedene ökologische Habitate betrachtet: zum Einen wurden die Gefahren des Tiefseebergbaus auf die marine Biodiversität diskutiert, zum Anderen erhielten die Teilnehmenden einen Überblick über die pflanzliche Artenvielfalt in Alpenregionen wie beispielsweise des Neualmgries.
Der Sonntagmorgen erlaubte einigen letzten, neuen inhaltlichen Input in Form von Vorträgen über Diversität in der Ökonomie sowie den Einfluss von Diversität auf die menschliche Psyche. Den Abschluss bildete ein interaktiver Vortrag über die Diversität in der Gesellschaft, welcher durch ein Vertrauens-Experiment einen gelungenen Abschluss der Vortragsreihen bildete und den perfekten Einstieg in die folgende Rekapitulation des Seminars bot.
Der Abschluss des letzten Tages wurde zur Synopse genutzt, um nochmals einzelne Aspekte der vorangegangenen Tage hervorzuheben und diese Fragen abermals mit dem neu erlangten interdisziplinären Wissensstand kritisch zu reflektieren. Das LWWS bot auch in diesem Jahr wieder eine wertvolle Plattform zum multiperspektivischen Austausch und vielfältige Gelegenheiten, das eigene Wissen über die Grenzen des persönlichen Fachgebiets zu erweitern.
Unser großer Dank gilt vor allem unseren Teilnehmenden selbst, die durchweg motiviert und mit viel Engagement das Seminar mitgestaltet haben. Einige bekannte und viele neue Gesichter haben sich sehr konstruktiv eingebracht und die Veranstaltung zum Erfolg gebracht. Unsere Gastdozierenden haben mit viel Input und großer Begeisterung das Seminar deutlich bereichert. Sie haben die Grundlagen ihrer Fachgebiete anschaulich vermittelt und uns an aktuelle Fragestellungen der Biodiversität herangeführt. Ferner danken wir der Studienstiftung und dem Alumniverein, die das LWWS durch Förderung und Feedback am Konzept unterstützt haben.
